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Aus dem Alltag der Armen-Bekämpfung

Ziele der Polizeibrutalität in den USA
von Kyrylo Tkachenko

Seit einigen Jahrzehnten schon führen die Vereinigten Staaten einen Krieg auf eigenem Boden, der seiner Offensichtlichkeit und seinen Ausmassen zum Trotz wenig Besorgnis erregt. Täglich werden Feinde getötet, verstümmelt, gefangengenommen, gefoltert, erniedrigt und beschämt. Es gibt permanent Siege zu verzeichnen, doch die Besiegten fallen in den eigenen Reihen.

Eines der zentralen Anliegen dieses Artikels liegt darin, zu erwägen, wie etwas von der Art in einer seinem Verständnis nach demokratischen Gesellschaft legitim sein kann. Dies wird hier am Beispiel der Polizeibrutalität beleuchtet — eines der grausamsten und gleichzeitig notwendigen Elemente des Krieges.

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Manchmal machen die dokumentierten Fälle der Polizeibrutalität in den USA Schlagzeilen. Dies war beim Selma-Marsch 1964 der Fall, als die Live-Übertragung des gewaltsamen Vorgehens der Polizei für Empörung im ganzen Land sorgte und damit zur Delegitimierung der Segregation im Süden beitrug. Ein anderer bekannter Fall ist der von Rodney King, dessen Misshandlung gefilmt wurde, worauf der Freispruch der Polizisten zu den grössten städtischen Unruhen der letzten 50 Jahre in den USA sorgte. Auf nationaler wie auf bundesstaatlicher und lokaler Ebene löst Polizeibrutalität immer wieder Skandale geringeren Kalibers aus. Tatsächlich gewinnen die dokumentierten Fälle polizeilicher Willkür sehr selten mediale Aufmerksamkeit. i Ausserdem werden sie meist als beispiellose Ausnahmefälle dargestellt, die für die gängige Polizeipraxis insgesamt untypisch sind.

Leider gibt es sehr wenige, zudem unvollständige Quellen, die es ermöglichen, das Gesamtbild der Polizeibrutalität in den USA zu umreissen. Eine davon ist die durch das Justizministerium geführte Statistik über Todesfälle bei Verhaftungen, die zwischen 2003 und 2009 4.813 Einträge zu verzeichnen hat. ii Demnach kommen in den USA auf diesem Weg jeden Tag durchschnittlich zwei Menschen ums Leben. Die meisten Fälle gehen direkt auf das Konto der Polizei: 60,9% der gesamten Todesfälle sind in der Statistik als ›getötet durch Polizisten‹ klassifiziert. Zu den restlichen Fällen später mehr, hier sei nur hervorgehoben, dass die Regierung immerhin zugibt, dass in den USA kein Tag vergeht, ohne dass jemand von der Polizei getötet wird. Um die Spitze der Polizeiwillkür zu verdeutlichen, seien an dieser Stelle zwei Vergleiche angeführt.

Seit der Wiedereinführung der Todesstrafe 1976 wurden in den USA insgesamt 1.273 Menschen hingerichtet. iii Jenseits der Todeskammern wurden von der Polizei allein zwischen 2007 und 2009 1.353 Menschen getötet. Der Vergleich zeigt, dass zwischen 2003 und 2009 pro legaler Hinrichtung mindestens acht quasi-legale Hinrichtungen stattfanden.

Ein weiterer Vergleich: Seit dem Anfang der Invasion fielen in Afghanistan rund 1.500 US-amerikanische Soldaten im Kampf. iv Zwischen 2003 und 2009 hat die US-amerikanische Polizei doppelt so viele Amerikaner getötet wie die Taliban zwischen April 2002 und April 2012. Die offiziellen Daten zu den legalen Hinrichtungen sind vermutlich vollständig. Im Fall des zweiten Vergleiches könnte man erwidern, dass die offiziellen Daten - wie man beispielsweise aus den bei Wikileaks veröffentlichten Dokumenten erfahren hat - unvollständig seien. Das gleiche gilt mit Sicherheit aber auch für die Angaben der Arrest-Related-Deaths-Statistik. So nahmen insgesamt 13 Bundesstaaten entweder überhaupt nicht an Erhebung der Daten teil oder lieferten sie nicht für jedes Jahr des gesamten Zeitraums. Des Weiteren wurden die Todesopfer der Bundespolizei (FBI) in dieser Statistik überhaupt nicht erfasst. Schon die erfassten Fälle werfen Fragen auf: Obwohl nur 60% der fast 5.000 registrierten Todesfälle in die Kategorie ›getötet durch die Polizei‹ fallen, gehören von den übrigen 40% jeweils 5,7% der Fälle in die Kategorien ›zufällige Verletzung‹ und ›unaufgeklärte Ursachen‹. 5,1% der Fälle gehören in die Kategorie ›natürliche Ursachen‹. Die Kategorie ›Suizid‹ ist unerwartet hoch (11,2%). Was den Verdacht der Unvollständigkeit auch innerhalb der Reichweite dieser Statistik erregt, ist allein die Tatsache, dass ihre Verfasser entscheidend von der Zusammenarbeit mit den Polizeibehörden abhängig sind, die kein grosses Interesse an der Vervollständigung dieser Statistik haben. Dass die Polizei bei der Lieferung entsprechender Daten tatsächlich nicht besonders bereitwillig war, wird auch von den Verfassern zugegeben. Letztere gehen sogar davon aus, die Zunahme der Tötungen von 2003 (376) zu 2009 (497) nicht unbedingt von einer tatsächlichen Zunahme der Fälle, sondern eher von der Verbesserung der Erfassungsmethoden zeugt.

Beide Vergleiche sollen in erster Linie verdeutlichen, wie disproportional wenig Aufmerksamkeit Polizeibrutalität in den Vereinigten Staaten erregt. So liegt die mediale Darstellung der Polizeibrutalität in den USA weit hinter der des Afghanistan-Kriegs. Im krassen Missverhältnis zu den beiden Kriegen im Nahen Osten wird Polizeibrutalität selten im politischen Diskurs angesprochen. Während des letzten Jahrzehntes wurde sie bei den Präsidentschaftswahlen nie zum Thema. Wie die Umfragen zu den ›grössten Problemen des Landes‹ belegen, gilt diese frappierende Disproportionalität auch für die Einstellung der gesamten Bevölkerung, in der Kriege im Nahen Osten zu politischen Prioritäten ersten Ranges gehören. Im Zeitraum zwischen 2003 und 2009 nannten zwischen 11% und 34% der Amerikaner den Irak-Krieg als das wichtigste Problem des Landes. Obwohl Verhaftungen im Inland zur Zeit des Kriegs für US-amerikanische Bürger blutiger verliefen als der Irak-Krieg selbst, v fand Polizeibrutalität überhaupt keinen Platz in den Listen der ›wichtigsten Probleme‹, geschweige denn eine vergleichbare Besorgnis zu erregen.

Treffend ist dieser Vergleich, weil es nicht die Todesopfer unter der Zivilbevölkerung sind, die in den USA den Kern öffentlicher Besorgnis ausmachen, sondern primär ›unsere Soldaten‹. So fiel beispielsweise die Zuspitzung der Anteilnahme am Irak-Krieg in den USA gerade mit dem für US-amerikanische Truppen verlustreichsten Jahr 2007 zusammen (dieses Jahr war aber vermutlich weniger verlustreich für die irakische Bevölkerung als beispielsweise das Jahr 2006 vi ). Der Prozentsatz der Amerikaner, die meinten, die Invasion in Afghanistan sei ein Fehler, wuchs nicht nur mit steigenden Verlusten unter US-amerikanischen Soldaten, sondern auch parallel zur Vergrösserung des Prozentsatzes derjenigen, die das besetzte Land eher negativ bewerteten. vii Abgesehen von zahlreichen nicht zu missachtenden Umständen, die den Unterschied zwischen der Polizeibrutalität in den USA und den Kriegen im Ausland ausmachen, haben wir im Wesentlichen die Einstellung zum Leben der eigenen Bürger verglichen, denen es mit Gewalt genommen wird.

Todesopfer sind natürlich nicht das einzige Ergebnis des Kriegs. So sind die Zahlen der Verletzten Amerikaner in den beiden Nahost-Kriegen jeweils ums Zehnfache höher als die der Getöteten. viii In der Arrest-Related-Deaths-Statistik wird zwar nicht präzisiert, welche Waffen in Fällen der Tötungen durch Polizisten verwendet wurden, dies legt aber eine Statistik polizeilicher Misshandlung offen, die sich allerdings nur auf die in den Medien veröffentlichten Fälle beschränkt. ix Dieser Statistik zufolge waren Feuerwaffen in 71% der Fälle das Tötungswerkzeug. Es ist klar, dass nicht jeder Mensch, der angeschossen wird, unbedingt stirbt; man kann auch mit einer mehr oder minder schweren Verletzung davonkommen. Die Zahl derer, die von der Begegnung mit der Polizei Schussverletzungen davontragen, kennen wir nicht. In den übrigen Fällen verwendete die Polizei unter anderem Elektroschockwaffe (9%) oder einfach ›physische Gewalt‹ (15%). Die Vermutung liegt nahe, dass, wenn die Anwendung von Elektroschocker und physischer Gewalt durch Polizisten schon tödlich sein kann, ruft sie in einer Unzahl von Fällen mit Sicherheit schwere Verletzungen hervor.

Eine annähernde Einschätzung davon, wie hoch die gesamte Zahl derjenigen ist, die durch Polizisten verletzt wurden, gibt eine andere Studie des Justizministeriums. x Zwischen 1999 und 2008 wurden insgesamt viermal Umfragen zu den ›Kontakten zwischen Polizei und der Öffentlichkeit‹ durchgeführt. Im folgenden beziehen wir uns nur auf Daten für 2008, das Jahr mit den geringsten Werten für polizeiliche Willkür. In jenem Jahr erfuhren schätzungsweise 776.000 Amerikaner Gewalt durch Polizisten oder wurden damit bedroht, wobei sie in der überwiegenden Mehrheit der Fälle tatsächlich angewendet wurde. Ein Fünftel derjenigen, die polizeiliche Gewalt erlebten, erlitten dadurch Verletzungen, was einer Zahl von mindestens 80.000 Verletzten entspricht. xi Die überwiegende Mehrheit der Betroffenen sind zwar vermutlich nicht schwer, sondern nur leicht verletzt. Der Ausblick auf den Umfang der Polizeibrutalität, den diese Statistik bietet, ist dennoch erschreckend.

Es gibt zwei wichtige Gründe dafür, dass Polizeibrutalität so wenig Besorgnis in den USA erregt. Der erste ist darin zu suchen, dass die Mehrheit der Bevölkerung davon relativ wenig betroffen ist. In einem Land, dessen Wohngebiete durch soziale Segregation geprägt sind, geben zwei Drittel der Befragten zu, dass es keine Polizeibrutalität in ihrer eigenen Wohngegend gibt. xii Die Gewalt beschränkt sich primär auf die ›Unterschicht‹, genauer gesagt, auf den im Zuge der neoliberalen Wende verarmten, marginalisierten und erniedrigten Teil der US-Bevölkerung. Der zweite Grund hängt damit unmittelbar zusammen und liegt darin, dass die letztere als Feind des Gemeinwesens definiert wurde. Es gibt keinen Krieg ohne Entmenschlichung des Feindes. Insofern dem machtlosesten Teil der Bevölkerung das menschliche Antlitz abgesprochen wurde, wurde auch das Aufzwingen ›kriegsähnlicher Zustände‹ für denselben durch den Rest der Bevölkerung akzeptabel. Diese Akzeptanz ist zum entscheidenden Teil rassistisch gefärbt und gehört zur Reaktion auf die Erlangung der Bürgerrechte durch Schwarze in den 60ern, die - was in diesem Zusammenhang selten erwähnt wird - gleichzeitig mit der grössten Erweiterung des Sozialstaates und der tiefgreifendsten Entmachtung der Reichen in der Geschichte der Vereinigten Staaten zusammenfiel. Seitdem wurde das rassistische Ressentiment zu einer der wichtigsten Voraussetzungen der schon seit vierzig Jahren herrschenden Politik des Sozialstaatsabbaus und der Umverteilung nach oben. Nicht zufällig kamen vor vierzig Jahren die folgenden Prozesse gleichzeitig in Gang: die Vergrösserung der Gefangenenzahl sowie des Prozentsatzes der Schwarzen unter ihnen, die Zunahme der armen Bevölkerung und die Vergrösserung der Einkünfte der Reichen. Aus sozio-ökonomischer Sicht erlitten die meisten Amerikaner im Zuge der Neoliberalisierung Verluste. Durch das Ausspielen des rassistischen Ressentiments gelang es aber, gerade die grössten Verlierer zu Schuldigen abzustempeln und die genannten Prozesse somit um so sicherer voranzutreiben. Jedenfalls forderten diese, sich gegenseitig verschlechternde Zustände, ihre menschlichen Opfer, zu denen auch diejenigen der Polizeiwillkür gehören.

Wenn man sich länger mit dem US-amerikanischen strafenden Staat beschäftigt, glaubt man beinahe eine proportio diabolica am Werke zu sehen. Im Vergleich mit einem durchschnittlichen US-amerikanischen Bürger werden Schwarze bei polizeilichen Kontrollen dreimal so oft durchsucht und dreimal so oft misshandelt. Unter den ›Getöteten durch die Polizei‹ sind schwarze Amerikaner dreifach überrepräsentiert. Diese Proportion wird auch bei der Füllung von Gefängnissen und bei der Auswahl von Todeskandidaten beibehalten.

Die angesprochenen Disproportionalitäten sind mehr oder minder bekannt. Noch grösser werden die Disproportionalitäten allerdings, wenn man ethnische Merkmale beiseite lässt und sich sozio-ökonomischen Charakteristika zuwendet. Obwohl die ›allgemeine‹ US-amerikanische Inhaftierungsrate ohnehin erstaunlich hoch ist (0,7% der Bevölkerung befindet sich hinter Gittern), sollte man bedenken, dass die Gefängnisse in erster Linie für das ärmste Fünftel der Bevölkerung reserviert sind und Haftstrafen kaum ausserhalb des ärmeren Drittels Anwendung finden. Vergleicht man die höchste Inhaftierungsrate der UdSSR unter Stalin, ist diese zwar doppelt so hoch wie die ›allgemeine‹ Inhaftierungsrate der USA heute, sie ist jedoch geringer als die Inhaftierungsrate für das unterste Drittel der Amerikaner. Der Unterschied zwischen der Inhaftierungsrate für die ärmere Hälfte der US-amerikanischen Gesellschaft und der für die reichere ist grösser als der zwischen Schwarzen und Weissen. xiii Es wäre zwar nicht korrekt, den Faktor ›Rasse‹ ganz zu verwerfen bzw. denselben auf ein Bündel sozialer Charakteristika zu reduzieren, denn er hat durchaus seine eigene Bedeutung und kann im Rahmen einer konkreten sozialen Dynamik andere soziale Charakteristika mitbestimmen - wie das in den heutigen USA tatsächlich der Fall ist. Aber selbst wenn der Unterschied zwischen Inhaftierungsraten für Schwarze und Weisse sich nicht vollkommen auf den Unterschied der Armutsraten reduzieren lässt, sei an dieser Stelle betont, dass beispielsweise die Inhaftierungsrate für die reichere Hälfte der Schwarzen geringer ist, als die Inhaftierungsrate für das ärmere Fünftel der gesamten US-Bevölkerung (zu dem die reichere Hälfte der Schwarzen auch nicht gehört). Schwarze machen etwa nur ein Drittel des ärmsten Fünftel aus. Auch wenn dieses ›nur‹ bedeutet, dass Schwarze darin fast ums Dreifache überrepräsentiert sind, ist die absolute Zahl der Weissen unter den ärmsten 20% der Amerikaner grösser. Der ausgesprochenen Überrepräsentierung der Schwarzen unter der Klientel des strafenden Staates zum Trotz gilt dieses Verhältnis auch für unterschiedliche Bereiche der Armutsbekämpfung: Die absolute Zahl an Weissen unter den Misshandelten/Getöteten durch die Polizei, unter den Gefängnisinsassen und den Hingerichteten ist grösser als die der Schwarzen.

Es ist wichtig zu betonen, dass der Krieg gegen Arme nichts mit der Kriminalitätsbekämpfung zu tun hat, sondern eines der wichtigsten Mittel bei der Etablierung des neoliberalen Staates ist. Es gab überhaupt keinen Anstieg der Kriminalität zur Zeit des Gefängnisbooms und der ihn begleitenden Hysterie. Abgesehen von der Mordrate ist die Kriminalitätsrate in den USA nicht höher als die, beispielsweise, in Schweden. Und wenn man es mit der Reduzierung der Mordrate tatsächlich ernst meinte, müsste man Feuerwaffen verbieten, anstatt Menschen, die nicht gewalttätiger oder gar keiner Delikte schuldig sind, zu horrenden Haftstrafen zu verurteilen (gewalttätige Straffällige machen schon seit langem die Minderheit der Gefängnisinsassen aus). Diejenigen, die des Mordes oder Totschlags verdächtig waren, machen nur 4,8% der bei Verhaftungen Gestorbenen aus. Dagegen machen diejenigen, die sich nur Ordnungswidrigkeiten schuldig/verdächtig gemacht haben, 14,5% der Gestorbenen aus. xiv Auf diese Weise wird in erster Linie nicht Kriminalität, sondern Marginalität bekämpft, die im Zuge des Angriffs auf Einkommen und sozialen Schutz der nicht-priviliegierten Bevölkerungsschichten rasant zunahm. Um zu verdeutlichen, wie fadenscheinig das Argument der ›Kriminalitätsbekämpfung‹ in Wirklichkeit ist, sei kurz auf die folgenden Sachverhalte eingegangen. Auf dem Höhepunkt des Gefängnisbooms 2007 verursachte die Gesamtzahl der Gewalt- und Vermögensdelikte einen finanziellen Schaden von 17 Milliarden Dollar. Der Grossteil der Verantwortlichen gehört nicht unbedingt zu den Armen und wird nicht festgenommen, geschweige denn verurteilt (auch Mordfälle werden von der Polizei nicht mal zur Hälfte aufgeklärt). Im Vergleich zu der genannten Summe kostet die Inhaftierung von über zwei Millionen Armen das Land 2007 siebzig Milliarden Dollar. Um das Bild zu vervollständigen: Der gesamte durch Wirtschaftsverbrechen verursachte Schaden, belief sich in jenem Jahr selbst den konservativsten Einschätzungen des FBI zufolge auf das Siebzehnfache des Schadens, der durch ›einfache‹ Kriminelle verursacht wurde. Das erstaunliche dabei ist, dass Wirtschaftsverbrechen disproportional häufig durch Vertreter derjenigen Schicht begangen werden, für die gerade die niedrigste Inhaftierungsrate gilt.

Zuletzt soll auf die gesellschaftliche Akzeptanz und auf die Stellung der Polizei im Krieg gegen die Armen eingegangen werden. In den USA spricht man selten vom Krieg gegen die Armen, er ist aber sehr wohl unter dem trügerischen Namen ›Krieg gegen Verbrechen‹ bekannt. Diese Bezeichnung markiert die überbordende gesellschaftliche Hysterie um die Jahrtausendwende und entsprechende Massnahmen, wie die Anwendung der Todesstrafe für geistig Behinderte und Minderjährige, die Folterung von über 80.000 Gefangenen durch Einzelhaft, die Reinhaftierung von einem erschreckend grossen Teil der Ex-Häftlinge auf Grund technischer Verstösse gegen Bewährungsauflagen, das Absprechen des Wahlrechts für Ex-Häftlinge und ähnliche Mittel ihrer Herabstufung zum Status minderwertiger Bürger. Und dazu gehört auch die Polizeibrutalität mit ihren täglichen Todesopfern. Die Behauptung, die politische Linie und die Einstellungen der Gesellschaft hätten damit nichts zu tun, wäre heuchlerisch. Die meisten der Nicht-Betroffenen haben eine Ahnung von den besonderen Methoden der ›Aufrechterhaltung des Gesetzes‹. Wer nichts davon weiss, will es auch nicht wissen. "Wem würden Leute glauben: einem Neger wie dir, oder einem Cop wie mir?" - verspottete ein Chicagoer Polizist regelmässig seine Opfer. Er konnte fast zwei Jahrzehnte lang den Klagen zum Trotz immer weitere Menschen auf seiner Wache foltern - selbstverständlich im Team mit seinen Kollegen und mit der Unterstützung seiner Vorgesetzten. xv Das Unheimliche am Rodney-King-Video ist nicht nur sein Verprügeln durch drei Polizisten, sondern auch, dass sie es unter Aufsicht ihres Vorgesetzten sowie in Anwesenheit elf weiterer Polizisten tun und dass es nebenbei Autos zeigt, die einfach vorbeifahren. Des Weiteren belegen die Content-Analysen von Cop-Realityshows, die zur Zeit der Zuspitzung des ›Krieges gegen Verbrechen‹ mit die höchsten Einschaltquoten genossen, dass die Polizisten darin viel brutaler handelten, als ihre kriminalisierten Gegenspieler aus den marginalisierten Vierteln, in denen sich die Handlung solcher Shows abspielte. Es ist das Ziel des Krieges, dass die Feinde leiden. Mitleid mit ihnen ist nicht vorgesehen. Der Opfer-Status ist in erster Linie für ›unsere Soldaten‹ reserviert. Selten verdient der Tod eines einfachen Gesellschaftsmitglieds in den USA mehr mediale Aufmerksamkeit, als der eines Polizisten. Im Unterschied zu Auslandskriegen werden Opfer unter ›unseren Soldaten‹ in diesem Fall nicht nur nicht verheimlicht, sondern (in medialen Termini) überrepräsentiert - nicht zuletzt deshalb, weil der Krieg auf heimatlichem Boden damit implizit gerechtfertigt wird. Es kommt nicht von ungefähr, dass die unmittelbare Reaktion der Hardliner auf die zu Skandalen gewordenen Fälle von Polizeibrutalität meist im Bezug auf die Zahlen der getöteten Polizisten besteht. Zu beachten ist allerdings, dass die Mordrate für Polizisten geringer ist, als die US-amerikanischer Männer xvi (die rund 90% der Polizisten ausmachen). D.h. es ist gefährlicher, ein männlicher Amerikaner als ein amerikanischer Polizist zu sein. Das gilt aber nur für die Viktimisierungs- und nicht für Verübungsrate: für einen im Dienst getöteten Polizisten werden mindestens sieben Menschen durch Polizisten getötet. Polizisten haben im Vergleich mit der gesamten Bevölkerung nicht nur eine halb so hohe Verurteilungrate, sondern werden in Fällen der Verurteilung auch halb so oft mit Haftstrafen sanktioniert, die zudem um ein Drittel kürzer sind. xvii Hinzu kommt, dass je schwerer das von einem Polizisten verübte Verbrechen ist, desto geringer die Chance einer Klage ist, überhaupt zur Strafanzeige zu werden. Diese Merkwürdigkeit hat schon damit zu tun, dass der Staat das strukturelle Problem bekommt, durch solche Fälle sein Gewaltmonopol in Frage zu stellen. Noch entscheidender ist aber das soziale Profil eines typischen Polizeibrutalität-Opfers im Kontext der gesellschaftlichen Akzeptanz des Krieges. Ein UN-Bericht zu den USA fasste es treffend zusammen: "The characteristics that make the victims vulnerable to police beating are the same characteristics that make them less credible to juries". xviii Beachtet man all diese Umstände, wundert man sich kaum, dass auf neun von zehn Fällen von Anwendungen der Gewalt durch die Polizei erst gar keine Klagen folgen. xix

Die Willkür der gegebenen sozialen Ordnung wird nicht nur durch unmittelbare Bestrafung der Armut mit quasi-legalen polizeilichen Mitteln unterstützt. Die grundsätzliche Willkür des Polizeidienstes ist schon in seiner Arbeit der ›Rohstofflieferung‹ für das Gefängnissystem angelegt. Wie bereits erwähnt, werden Schwarze bei den polizeilichen Kontrollen drei mal so oft durchsucht wie Weisse. Das zeigt eine Studie des Justizministeriums auf nationaler Ebene. Was sie nicht zeigt, wird durch mindestens ein halbes Dutzend weiterer Studien belegt, die auf lokalen Ebenen durchgeführt wurden und nicht nur die Überrepräsentierung von Schwarzen bei Kontrollen und Durchsuchungen nachweisen, sondern darüber hinaus zeigen, dass ein Verhaftungsgrund sich dabei durchschnittlich seltener ergab, als im Fall von Weissen. Das Missverhältnis zwischen ›Schwarz‹ und ›Weiss‹ ist hier nur ein Indiz für (vermutlich noch grössere) Missverhältnisse sozialer Art. Den weiteren Stufen des Strafapparats fällt bloss die Aufgabe zu, die intendierte Klassensichtung zu vollenden.

Die beleuchteten Zustände in den USA sollten als eine Warnung zumindest für vergleichbare demokratische Gesellschaften dienen: Die Einmaligkeit der Erfahrungen, die die Vereinigten Staaten auf dem Feld der ›Kriminalitätsbekämpfung‹ gemacht haben, sind in erster Linie dadurch bedingt, dass dieses Land mit der Umsetzung des neoliberalen Projektes viel früher anfing und dasselbe viel hartnäckiger durchführte als ihre europäischen Nachahmer es heute tun. Ob die weitere Verfolgung der neoliberalen Kurse im Fall europäischer Staaten genauso schlimme Folgen haben wird, ist schwer vorauszusagen. Der Fall von den USA zeigt jedenfalls klar, dass eine konsequente Ablösung des Solidaritätsanspruchs durch eine Konkurrenzideologie darin enden kann, dass die zunehmende soziale Unsicherheit nur noch mit Kriegsmitteln ›beseitigt‹ wird.


Kyrylo Tkachenko ist Autor von "Der Fall Mumia Abu-Jamal. Rassismus, strafender Staat und die US-Gefängnisindustrie", Unrast Verlag, Münster 2012, 239 S., 14 Euro, ISBN: 978-3-89771-043-6

weitere Informationen im Internet
i Seit der Verbreitung portabler Videoaufnahmegeräte und Entstehung von Internet-Portale wie You-Tube sind inzwischen hunderte von Fällen der Polizeibrutalität in den USA dokumentiert - auch mit tödlichen Folgen.
ii Bureau of Justice Statistics. Arrest-Related Deaths, 2003-2009 - Statistical Tables. Zugänglich über:
Quelle...
iii Dem Stand vom Ende 2011 nach. Sourcebook of Criminal Justice Statistics, Prisoners Executed Under Civil Authority. Zugänglich über:
Quelle...
iv Dem Stand von April 2012 nach. Department of Defence, Casualty Status. Zugänglich über:
Quelle...
v Für den Zeitraum 2003-2009 sind es 4.486 Gestorbene in Irak vs. 4.813 bei den Verhaftungen Gestorbene in den USA (Casualty Status; Arrest-Related Deaths).
vi Iraq Body Count, Iraqi Deaths from violence 2003-2011. Zugänglich über:
Quelle...
vii Gallup, Afghanistan. Zugänglich über:
Quelle...
viii 3.479 Gefallene im Kampf vs. 31.923 Verletzte im Kampf im Fall des Irakkrieges. 1.518 Gefallene im Kampf vs. 15.594 Verletzte im Kampf im Fall des Irakkrieges (Casualty Status).
ix The National Police Misconduct Statistics and Reporting Project, 2010 Annual Report. Zugänglich über:
Quelle...
x Bureau of Justice Statistics, Contacts between Police and the Public, 2008. Zugänglich über:
Quelle...
xi Die Zahl liegt eigentlich zwischen 80.000 und 110.000 der Verletzten. Die Daten werden in dieser Statistik leider so angeführt, dass es eine genauere Einschätzung nicht zulässt.
xii Gallup, Confidence in Local Police Drops to 10-year Low. Zugänglich über:
Quelle...
xiii Der Prägnanz halber wird die Darstellung nur auf den Vergleich zwischen Schwarzen und Weissen nicht-lateinamerikanischen Ursprungs beschränkt und zählt somit (auch im folgenden) Latinos nicht zu ›Weissen‹. Über Latinos sei nur folgendes angemerkt. Sozio-ökonomisch gesehen nahmen sie bis zu den letzten Jahrzehnten den mittleren Platz zwischen Weissen und Schwarzen ein. Der raschen Zunahme von Latinos als Anteil der US-amerikanischen Bevölkerung innerhalb der letzten dreissig Jahre folgend, hat sich ihre soziale Position aber deutlich derjenigen der Schwarzen angenähert (Inhaftierungsrate mit eingeschlossen).
xiv Es sei noch einmal betont, dass es hier primär um die von der Polizei gelieferten Daten handelt, denn in vielen Fällen werden den Getöteten schwere Verbrechen vorgeworfen, denen sie sich nicht schuldig gemacht haben. Nachdem im März 2003 der Chicagoer Einwohner Michael Pleasance durch einen Polizisten erschossen wurde, behauptete der letztere, Pleasance habe ihn angegriffen. Die Videoaufnahme des Vorfalls zeigt allerdings klar, dass der vermeintliche Angriff nie stattfand. Nachdem San-Franciscoer Polizisten im Juni 2004 39 Kugel auf Gus Rugley abschossen, behaupteten sie, es habe sich um ein Feuergefecht mit dem Verfolgten gehandelt. Bei der Autopsie fand man allerdings keinerlei Schiesspulver-Spuren auf der Haut oder Kleidung des Erschossenen. Einem Bericht von American Civilian Liberty Union zufolge legten die Polizisten eine Pistole neben die Leiche des von ihnen soeben erschossenen Bernard Monroes (2009, Bundesstaat Louisiana). Unter Berufung auf die Berichte von Organisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch könnte man diese Liste noch weiter fortsetzen.
xv Human Rights Watch, Shielded from Justice. Zugänglich über:
Quelle...
xvi Bureau of Justice Statistics, Homicide trends in the United States. Zugänglich über:
Quelle...
xvii The National Police Misconduct Statistics and Reporting Project, The Problem with Prosecuting Police in Washington State. Zugänglich über:
Quelle...
xviii In the Shadows of the War on Terror: Persistent Police Brutality and Abuse of People of Color in the United States. Zugänglich über:
Quelle...
xix Bureau of Justice Statistics, Citizen Complaints about Police Use of Force. Zugänglich über:
Quelle...
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